, Ferdinand Braun

Weggemeinschaft

Ansprache bei der Feier des Lebens am 14.9.2024

Und es geschah, als sie so redeten und sich miteinander besprachen,
da nahte sich Jesus selbst und ging mit ihnen.  Lukas 24,15

 

Ausgehend von dieser Stelle im Lukasevangelium möchte ich einige Gedanken über die Bedeutung einer Weggemeinschaft formulieren, so wie ich sie verstehe.

Was bedeutet „Weg“ in der Kontemplation? Können wir in der Kontemplation überhaupt von einem Weg sprechen, den wir gehen, um irgendwo anzukommen? Viele von uns kennen den Spruch: „Der Weg ist das Ziel!“ Unterwegs zu sein, in Bewegung zu bleiben, immer wieder den nächsten Schritt zu tun – das ist das Eigentliche! Und doch wage ich es, auch von einem Weg zu sprechen, der uns zurückführt zu uns selbst – ins Jetzt, in die Gegenwart. Willigis bezeichnete Kontemplation treffend als „Ankommen im Jetzt“, vielmehr noch als: Ankommen bei sich selbst, in der eigenen Tiefe. Doch wie kann dieses Ankommen bei sich selbst gelingen?

Hierzu inspiriert mich ein Gedanke von Meister Eckhart in seinen Kommentaren zur Schöpfungs-geschichte: „Der himmlische Vater spricht ein Wort und spricht es ewiglich […] Dieses Wort liegt in der Seele verborgen, so dass man es nicht weiß noch hört, es sei denn, ihm wird in der Tiefe Gehör verschafft; vorher wird es nicht gehört. Vielmehr müssen alle Stimmen und Laute verstummen, es muss eine lautere Stille da sein, ein tiefes Schweigen.“ Dieses göttliche Wort ist der „Ruf Gottes“ in der Tiefe unserer Seele. Es ist dieser stille, göttliche Ruf, der uns führt, lenkt und schließlich zu uns selbst zurückbringt – sofern wir ihm in der Tiefe Gehör verschaffen. So verstehe ich die kontemplative Praxis als vertrauensvolle Hingabe (an Gott), der selbst für uns zum „Weg“ geworden ist.

Dieses Zu-sich-kommen ist jedoch kein Rückzug in die eigene Innerlichkeit. Im Gegenteil: Je tiefer ich in mein eigenes Wesen vordringe, umso klarer erkenne ich die Verbundenheit mit allem, was ist. Das heißt: Je mehr ich mit mir selbst verbunden bin, desto näher bin ich auch dir! Dieser Gedanke führt mich zur Bedeutung der Gemeinschaft. Prof. Dr. Bernhard Uhde sprach in seinem Vortrag vom „Dreiklang der Liebe“ und meinte damit: Die Liebe führt
– vom Gegensatz zum Unterschied
– vom Unterschied zur Vereinigung und
– von der Vereinigung zur Einheit.

Es ist die Kraft der Liebe, die bewegt und zusammenführt. Und darunter ist nicht jene Liebe zu verstehen, die wir für Menschen oder Dinge empfinden, sondern „etwas“ Tiefgreifendes, das uns alle mit allen und allem verbindet und uns befähigt, in Beziehung zu treten – sowohl zu anderen als auch zu uns selbst. Martin Buber sagt: „Ich brauche dich, um ich bleiben und werden zu können.“ Der andere, die Gemeinschaft, hilft mir zu mir selbst zu finden. Das Liebesgebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ interpretiert Buber mit den Worten: „Liebe deinen Nächsten, er ist wie du.“ Aus mystischer Perspektive könnte man sogar sagen: „Liebe deinen Nächsten, er ist kein anderer als du selbst.“ Betrachtet man es so, gewinnt die Weggemeinschaft eine noch viel tiefere Bedeutung: Wir erkennen, dass wir eins sind – mit dem Göttlichen und miteinander. 

Dieser Aspekt von Gemeinschaft spiegelt sich auch in der Symbolik des Brotbrechens wieder. In der Agapefeier sprechen wir die Worte: „Wie die Getreidekörner auf dem Acker zerstreut waren und zu einem Brot geworden sind, so soll uns die Gemeinschaft dieses Mahles in Liebe einen.“ Die vielen Körner, die zu einem Brot werden, sind ein kraftvolles Bild für diese Einheit in der Gemeinschaft. Die Liebe führt uns zusammen, „mahlt“ uns, formt uns und lässt uns zu einem Ganzen werden. Khalil Gibran beschreibt dies in seinem Text über die Liebe folgendermaßen: „Denn so wie die Liebe dich krönt, kreuzigt sie dich. So wie sie dich wachsen lässt, beschneidet sie dich. [...] Sie mahlt dich, bis du weiß wirst. Sie knetet dich, bis du geschmeidig bist, und dann weiht sie dich ihrem heiligen Feuer, damit du ein heiliges Brot für Gottes Festmahl wirst. All dies tut die Liebe, damit du die Geheimnisse deines Herzens erkennst und in diesem Wissen ein Teil des Herzens des Lebens wirst“.

Die Weggemeinschaft ist also nicht nur ein äußerer Weg, sondern vor allem ein innerster Prozess. Es ist die göttliche Liebe, die uns bewegt, uns wachsen lässt und zusammenführt und letztlich eint. Allein 
magst du vielleicht schneller vorankommen, aber gemeinsam kommen wir weiter. In einer Weggemeinschaft geht es daher nicht nur um das individuelle Vorankommen, sondern um das 
gemeinsame Gehen, das gegenseitige Unterstützen, das Teilen von Erfahrungen und vor allem um das Lernen voneinander.


 

Fernand Braun
spirituelle Leitung der „Wolke des Nichtwissens – Kontemplationslinie Willigis Jäger“ und des Benediktushofs, Diplom in katholischer Theologie.

 

Bild: Steinschrift, gefunden in Holzkirchen, September 2024