, Gertrud Kieserg

Die Liebe zerstört nie

Marguerite Porete

Die Liebe zerstört nie.
Vielmehr unterweist und ernährt 
die sich ihr anvertrauen.
Denn sie ist sättigend
und ein Abgrund
und ein überlaufendes Meer. 
                   

Der Spiegel der einfachen Seelen, Kap. 79


Marguerite Porete verfasste um die Wende zum 14. Jahrhundert einen Klassiker der spirituellen Literatur des Mittelalters, den Spiegel der einfachen Seelen, aber erst 1946 identifizierte die Historikerin Romana Guarnieri sie als Autorin. Bis dahin wurde das Buch jahrhundertelang anonym verbreitet oder Männern zugeschrieben. Es war das erste geistliche Lehrbuch in der französischen Volkssprache. 

Der Spiegel handelt vom Erwachsenwerden im Glauben. Die Seele, die in der Liebe lebt, hat, wie sie sagt, die Kindheit und die Kinderwerke hinter sich gelassen und ist frei. Es war ein ganz neuartiger Spiegel zur Selbst- und Gotteserkenntnis, gleichwohl aber biblisch fundiert. „Das Paradies ist nichts anderes als einzig und allein Gott schauen“ (Kap. 97).

Marguerite hat sich zunächst darum bemüht Gott zu finden „wie sie ihn sich wünschte“. Aber ihre Sehnsucht blieb ungestillt. Sie fragt, wie Gott gedacht werden könnte und findet die Formulierung: „Sein ohne Sein, welches das Sein selbst ist“ (Kap. 115).

Die freie Seele des Spiegels hat Einblicke, blitzartige Visionen von einem Zustand, der bildlos ist, ja Marguerite behauptet, sie lebt in einem solchen Zustand. Sie spricht vom „Sein im Nichtsprechen-können.“ Trotzdem brauchen wir als Menschen die Sprache, um uns verständigen zu können. Wie kann von Gott und von Gotteserfahrung geredet werden, wenn doch die Erfahrung selbst jenseits des Vermittelbaren ist? So spricht sie z.B. von Gott als dem Fernnahen (Le Loingprés), dem „Nichts, das ihr Alles bringt.“ 

Sie nimmt auch das Feuer als Metapher: „Denn so […] wie das Eisen vom Feuer umkleidet ist und dann sein eigenes Aussehen verloren hat, weil das Feuer, das dieses in sich wandelte, das Stärkere ist, ganz so wird diese Seele mit dem Plus überkleidet und gespeist und verwandelt in sein Mehr, auf das das Weniger nicht achtet“ (Kap. 52).

„Sie [die Seele] glüht im Schmelzofen des Liebesfeuers, so dass sie eigentlich zu Feuer geworden ist. Darum empfindet sie das Feuer nicht mehr, denn sie ist selbst Feuer durch die Kraft der Liebe. Sie ist verwandelt im Feuer der Liebe“ (Kap. 25). „Nun gibt es nur ein gemeinsames Wollen, wie Feuer und Flamme“ (Kap. 28), denn „Feuer nimmt keineswegs je irgendwelche Materie an: Es macht vielmehr aus sich und der Materie einen einzigen Stoff“ (Kap. 83).


 

Gertrud Kieserg