, Kristina Kieslinger

Die Mystik des Alltags bei Thomas Keating OCSO

Muss ich in ein Kloster eintreten oder zumindest auf Exerzitien fahren, um spirituell zu sein? Mit Thomas Keating OCSO können wir die Frage mit einem eindeutigen »Jain« beantworten. Aufschlussreich ist hierfür eine kleine Anekdote, welche diese Fragen aufwirft und gleichzeitig eine Spur für eine Beantwortung legt:

Die Geschichte handelt von einem jungen Mann, den Keating als einen Macho beschreibt, dessen Selbstwert darin besteht, am Wochenende durch die Bars der Stadt zu ziehen und dabei seine Freunde »unter den Tisch zu trinken«. Nach solchen Trinkgelagen brüstet er sich damit, dass er sich als Letzter aufrecht halten konnte. Durch ein Bekehrungserlebnis wird er dazu veranlasst, sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Er sucht sich den strengsten Orden, den er finden kann, und stürzt sich voller Enthusiasmus in das entbehrungsreiche Dasein. Zur Fastenzeit gelingt ihm dann eine »Meisterleistung«: Während immer mehr Mitbrüder aus gesundheitlichen Gründen die strengen Fastenvorschriften brechen müssen, hält er bis zum Ende durch. Voller Stolz hatte er nun nicht seine Freunde unter den Tisch getrunken, sondern die anderen Mönche »unter den Tisch gefastet«.1

Die Geschichte zeigt, dass weder die äußeren Lebensumstände noch ein vermeintlicher Sinneswandel ein Indikator dafür sind, ob wir uns auf dem spirituellen Weg befinden oder zu einem besseren Menschen werden. Der junge Mann hatte alle Voraussetzungen und doch wurde das, was an der Wurzel aller Verwandlung steht, nicht angegangen: die Konfrontation mit dem Falschen Selbst und die Einsicht in das Wahre Wesen, das bedingungslose Liebe und grenzenloses Mitgefühl ist. Nach Keating sind wir dazu berufen »fully human […] and fully divine«2 zu sein.

I.   So heilig wie ein Besuch in der Kirche der Alltag

Die Zeit und der Ort, an dem diese Berufung entdeckt und gelebt werden kann, ist für Thomas Keating der Alltag.3 Was meint Keating genau damit? Ich möchte mich für eine Systematisierung auf die Ausführungen von Alexander Flierl4 beziehen und untersuchen, wo seine Ausführungen zu Keating passen, aber auch wo Keating die gängige Wahrnehmung erweitert.

  • Subjektwerdung: Der Alltag ist der »Ausgangspunkt menschlichen Subjektwerdens und Subjektseins«5. In den alltäglichen Begebenheiten entsteht die Identität des Menschen und wird sein Sozialverhalten geprägt – sie machen uns gewissermaßen zu den Personen, die wirsind. Das hängt auch damit zusammen, dass wir im Alltag »Sinnerfahrungen«6 machen können, die mit außergewöhnlichen Ereignissen verbunden sein können.

Ganz ähnliche Gedanken finden sich bei Keating: Der Alltag lässt uns erkennen, wo wir im Leben vor allem mit Blick auf unsere Gottesbeziehung stehen und führt uns damit vor Augen, wer wir sind. Diese Selbsterkenntnis findet im Alltag statt und muss dann auch wieder in den Alltag integriert werden. Denn der Alltag zeigt uns auch unsere Schattenseiten in Form der Kompensationsmechanismen des »Falschen Selbst«7: die in der Kindheit legitimen, aber nur unzureichend oder nicht befriedigten Bedürfnisse nach Anerkennung, Schutz und Selbstwirk – samkeit, die den Erwachsenen dazu bewegen seine Mitmenschen als Objekte seiner Bedürf – nisbefriedigung zu ge-/missbrauchen. Ebenso die Neigung des Falschen Selbst mit den Werten der eigenen Gruppe derart identifiziert zu sein, dass Veränderung nur schwer möglich ist. Diese Strukturen werden im Alltag aufgedeckt. Die kontemplative Praxis hilft dabei, diese immer ehrlicher und mutiger wahrzunehmen und die Veränderungen, die mit ihrem Loslassen einhergehen, in den Alltag zu integrieren. Der Fokus liegt bei Keating also nicht auf außergewöhnlichen Ereignissen, sondern der Umstrukturierung des Bewusstseins, welches im Gewöhnlichen das Außergewöhnliche erkennt.8

  • ii.    Qualitative Prägung: Nach Flierl ist der Alltag durch eine bestimmte qualitative Prägung ausgezeichnet, die sich als »fraglos und selbstverständlich«9 bezeichnen lässt. Handlungen und Aktivitäten werden oft routiniert und eher pragmatisch ausgeführt, was sich auch in der »spezifische[n] Zeiterfahrung«10 ausdrückt: Der Alltag wird meist als langweilig und eintönig wahrgenommen.

Diesem eher tristen Bild verleiht Keating eine neue Dimension bzw. besser formuliert: das kontemplative Gebet und das Bewusstsein der Präsenz Gottes geben dem Alltag eine neue Qualität: Begibt man sich auf das Abenteuer der spirituellen Reise, eröffnet sich eine neue Welt, die vorher im Verborgenen lag. »As our contemplative clarity deepens, we move from the occasional experience of the Presence to a permanent state of loving interaction on a moment by moment basis.«11 Um es etwas plastischer zu machen: es ist, als würde einem Stummfilm plötzlich eine Tonspur hinzugefügt.12 Eigentlich hat sich im Alltag nichts verändert und in Wirklichkeit hat sich alles geändert.

  • iii.      Die Bedeutung der gesellschaftlichen Bedingungen: Bei all diesen innerlichen und subjektiven Wahrnehmungen darf der gesellschaftliche Kontext, in dem sich jede Spiritualität notwendigerweise vollzieht, nicht vergessen werden. Hier ist es nach Flierl vor allem die

»zunehmende Komplexität«13, die unser Leben bestimmt. Eine stetig wachsende Verunsicherung, ausgelöst durch das Wegbrechen von Leitbildern und Orientierung, macht sich breit.

Keating weiß um die Bedeutung des Kontextes von Spiritualität und Gebet, wenn er in eindrücklichen Worten darauf hinweist, dass ohne den Einsatz für die Gestaltung einer gerechteren Welt der Fokus auf die Kontemplation zu einem »high-class tranquilizer«14 (‚erstklassigen Betäubungsmittel‘) degeneriert. Es braucht eine Integration des Gebets in das Handeln und den Einsatz für alle Menschen, die Zuwendung brauchen. Was die Betenden davon abhält, sind oft die Wirkweisen des Falschen Selbst, welche die eigenen Wehwehchen hochstilisiert und die wirklichen Nöte der Welt übersieht.15 Mit Keating muss also davor gewarnt werden, Kontemplation als eine Immunisierungsstrategie zu benutzen und Bedürfnisse anderer zu vernachlässigen. Die Nicht-Identifikation mit äußeren Umständen bedeutet nicht Gleichgültigkeit, sondern deren Gestaltung aus einem Ort der Annahme heraus.

Mit der Annahme der Realität, wie sie sich in jedem Moment zeigt, wird gleichzeitig Gott angenommen. Dadurch wird der Alltag nicht nur geheiligt, sondern ist selbst der Ort der Gottesbegegnung: »In a way, the present moment becomes as sacred as being in church.«16

II.   Mystik den Graben durch Loslassen überwinden

Mit der Klärung dessen, welche Bedeutung der Alltag in Keatings Kontemplationspraxis einnimmt, ist eine wichtige Spur dahin gelegt, wie er in die Tradition christlicher Mystik eingeordnet werden kann. Da das Wort Mystik zum Teil genauso nebulös verwendet wird, wie der Begriff des Alltags, möchte ich mich hier an den sehr systematischen Ausführungen von Michael Rosenberger17 orientieren. Er teilt die christliche Spiritualitätsgeschichte grob in zwei Linien ein: eine platonische und eine ignatianische: »In der ignatianischen Tradition liegt die Lösung in der Annahme der ungegenständlichen Realität Gottes in den ‚Dingen‘ der Welt, wodurch Gott unterschiedslos in Allem gefunden werden kann. Bei der platonischen Linie wird davon ausgegangen, dass die Dinge überwunden werden müssen, um dann zur eigentlichen Erfahrung Gottes zu kommen.18 Für diese Einteilungen spielen weitere Kategorien eine Rolle:

  • Rationalität und Emotionalität: »Das Verhältnis Rationalität/Intellektualität – Emotionalität: Wird die Gotteserfahrung als rein rational oder als rein emotional angesehen oder spielen rationale und emotionale Komponenten in ihr zusammen?«19

Bei Keating ist die Selbst – und Gotteserkenntnis die Bedingung der Möglichkeit für den weite – ren spirituellen Prozess. Der Mensch wächst in der Erkenntnis seines Falschen wie Wahren Selbst und in der Erkenntnis Gottes, woraus sich für Keating eine Transformation des Bewusstseins ergibt. In diesem Zustand ist sich der Mensch der andauernden Nähe Gottes gewahr, verbindet diese aber nicht notwendigerweise mit sinnlichen Wahrnehmungen. Diese subtile Form des Erkennens wird dann mit Inhalten aus der christlichen Tradition gefüllt und die Erkenntnis so konkretisiert. Keating betont dabei die Notwendigkeit von Reflexion und die geistige Auseinandersetzung mit theologischen Inhalten bzw. vor allem damit, was im Prozess für das eigene Leben erkannt worden ist.

  • Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit: »Das Verhältnis Äußerlichkeit – Innerlichkeit, Gegenständlichkeit – Ungegenständlichkeit, Vermitteltheit – Unmittelbarkeit: Wird die innerliche Gotteserfahrung äußerlich und damit sinnenhaft konkret vermittelt oder geht es um eine rein innerliche Unmittelbarkeit Gottes, die durch äußere Anschauungen und Erlebnisse höchstens vorbereitet wird?«20

Um dies bei Keating zu klären, ist einer seiner dichten Sätze hilfreich »GOD IS PRESENT IN everything, but not limited by anything. Being is a relationship with everything that exists, and everything that exists is in a relationship with God.«21 Was bedeutet das für die Frage nach dem Ungegenständlichen im Gegenständlichen? Nach Keating identifiziert sich Gott durch die Inkarnation völlig mit der ‚conditio humana‘22. Der höchste Ausdruck dafür ist das Paschamysterium: Im Leiden und Sterben Christi hat sich Gott die menschlichen Bedingtheiten förmlich einverleibt und die Wurzel der ‚conditio humana‘ aufgelöst, ohne aber auch ihre Konsequenzen auszulöschen, da dies mit der menschlichen Freiheit unvereinbar wäre.23 Für Keating folgt daraus: »Unconditional love. The essential meaning of the Incarnation is that this love is totally available.«24 Darauf werden wir im Punkt zur Liebe noch zurückkommen.

  • Personalität und Apersonalität: »Die Alternative Personalität oder Apersonalität: Erfährt der Mensch in der Gotteserfahrung ein völliges Einssein mit dem Kosmos und eine Auflösung seines Ich im Es, oder spürt er eine tiefe Einheit mit Gott in bleibender Unterschiedenheit von Ich und Du?«25

Für Keating ist Gott nur im analogen Sinne »Person«, er begegnet dem Menschen aber auf personale Weise, da dies die einzige Möglichkeit ist, dem Menschen nahe zu sein. Keating beschreibt Gott sowohl in apersonalen als auch in personalen Kategorien. Gott ist sowohl

»THAT WHICH IS«26 als auch der Vater Jesu Christi.27

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für den Menschen? Es geht bei Keating nicht um eine Auslöschung der Identität und Individualität des Menschen, vielmehr ist eine stabile Identität Voraussetzung für den spirituellen Weg: »If we don’t have a self or self-identity, we don’t know what to give.«28 Der Fokus liegt auf der Entwicklung einer »nonpossessive attitude«29 gegenüber dieser Individualität. Anstatt von einer Vernichtung des Selbst zu reden, wird es dem Anliegen Keatings wohl eher gerecht, den mystischen Prozess als Transformation und Umstrukturierung des Selbst und des Bewusstseins zu bezeichnen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Keating formal in großen Teilen der »platonischen« Linie zuzurechnen, in seinem genuinen Entwurf aber »ignatianisch« geprägt ist. Den Spagat schafft er über die interessante Denkform der »non-possessiveness«30.

Damit ist eine Überleitung zum letzten Punkt – der Liebe – möglich. In seinem Exerzitienbuch schreibt Ignatius: »Was der Seele wohltut, ist ‚das Verspüren und Verkosten der Dinge von innen her‘.«31 Für Keating geschieht dies im gemeinsamen Brot brechen und Essen. Doch dazu gleich mehr.

Die Ausführungen zum Liebesbegriff bei Keating sind sowohl anschlussfähig an sein Gottesbild, das an manchen Stellen im Vortrag durchgeschienen ist, als auch an sein Verständnis vom Alltag und vor allem an die Bedeutung gesellschaftlicher Entwicklungen. Denn Keating nimmt die vielen Menschen, die in prekären Situationen oder gar Unterdrückungsverhältnissen ihr Leben bewältigen müssen, als Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Eine Form der Sünde ist die Ignoranz gegenüber den Bedürfnissen anderer Menschen und vor allem derer, die unter den beschriebenen Umständen leben – hier kann die in der Kontemplation erfahrene Liebe wirksam werden, in dem der Mensch über seine gewohnte Art, sich mit Schwierigkeiten auseinanderzusetzen, hinauswächst.

Um es etwas greifbarer zu machen, greift Keating auf die biblisch immer wieder belegte Szenerie zurück, dass Jesus das Brot mit seinen Mitmenschen teilt. Er fasst seine Vorstellung von gelebter Liebe und gesellschaftlichem Einsatz deshalb im Begriff des »companioning« zusammen, womit er (angelehnt an das Lateinische cum = zusammen und panis = Brot) das gemeinsames Brotessen versteht. Dabei geht es nicht nur um den physischen Akt des Essens, sondern vor allem auch um das Teilen – auch des Leidens. Mit den Ausgegrenzten das Brot zu teilen, Gemeinschaft zu haben, ist nicht nur ein Akt der Nächstenliebe, sondern stellt gleich – zeitig gesellschaftliche Exklusionsmechanismen radikal in Frage. Nach Keating geht es darum, mit allen Menschen – und mit Gott – sein Brot zu teilen. Einfach mit einer einladenden Haltung da zu sein und die Anwesenheit Gottes jenseits von Gedanken und Gefühlen zu schmecken. Liebe ist damit also nichts Pompöses. Es geht um die Annahme des gegenwärtigen Augenblicks und das Empfangen der lebenswichtigen Nahrung. Alles was der Mensch dafür tun muss, ist »den Mund aufmachen«. Eine empfangende Disposition, die bei einer Akzentverschiebung zu einem sozialen Auftrag wird: den Mund aufmachen gegen ungerechte Verhältnisse. So vollzieht sich im gewöhnlichen Leben, im Alltagstrott, die Verwandlung hin zu einem Leben in außergewöhnlicher Liebe.

 

 


1 Vgl. Keating, Thomas, The Human Condition. Contemplation and Transformation, Mahwah, NJ 1999, 17, 19 (HC); vgl. Keating, Thomas, Invitation to Love. The Way of Christian Contemplation, Twentieth Anniversary Edition, New York 22012., 14 ff. (ItL).

2 Keating, Thomas, Reflections on the Unknowable, Brooklyn, NY 2014, 15 (RU).

3 Vgl. RU, 127.

4 Vgl. dazu Flierl, Alexander, Alltägliche Ethik oder Ethik des Alltäglichen? Perspektiven der ethisch vernachlässigten Kategorie »Alltag«, in: Ethica 16 (2008), 249–268.

5 Flierl, Alltägliche Ethik, 252.

6 Flierl, Alltägliche Ethik, 253.

7 Keating, Thomas, Intimacy with God. An Introduction to Centering Prayer (2. Aufl.). The Crossroad Publishing Company, 22009 101 (IwG).

8 Vgl. Open Mind, Open Heart. The Contemplative Dimension of the Gospel, Twentieth Anniversary Edition, New York/New Delhi/Sydney 2006, 2 (OM)

9 Flierl, Alltägliche Ethik, 252.

10 Flierl, Alltägliche Ethik, 253.

11 RU, 167–168.

12 Vgl. OM, 70.

13 Flierl, Alltägliche Ethik, 253.

14 IwG, 83.

15 Vgl. Keating, Thomas, Manifesting God, New York 2005, 45 (MG).

16 Keating, Thomas, The Divine Indwelling, in: Keating, Thomas u. a., The Divine Indwelling. Centering Prayer and its Development, New York, 2001, 98.

17 Rosenberger, Michael, Im Geheimnis geborgen. Einführung in die Theologie des Gebets, Würzburg 2012.

18 Kieslinger, Kristina, Ethik, Kontemplation und Spiritualität. Thomas Keatings ‚Centering Prayer‘ und dessen Bedeutung für die Theologische Ethik (SThE 155) 2020, 206.

19 Rosenberger, Im Geheimnis geborgen, 47.

20 Rosenberger, Im Geheimnis geborgen, 47.

21 RU, 81; Hervorh. im Original.

22 Vgl. IwG, 11; MG, 17.

23 Vgl. IwG, 177 ff.

24 IwG, 179.

25 Rosenberger, Im Geheimnis geborgen, 47.

26 MG, 128; Hervorh. im Original.

27 RU, 84.

28 IwG, 21.

29 ItL, 119.

30 Vgl. hierzu einen Vortrag von Kristina Kieslinger unter dem Titel: »Vom Loslassen aller Identifikationen. Die Haltung der ‚Nonpossessiveness‘ als Spur zu einem erfüllten Leben in Thomas Keating’s Centering Prayer«: https://www.youtube.com/watch?v=_ziUrz2fKAM.

31 Köster, Peter, Zur Freiheit befähigen. Die Geistlichen Übungen des hl. Ignatius von Loyola. Ein Kommentar mit Hinweisen für die Praxis des Begleitens, Würzburg 2017, 35.

32 Vgl. hierzu einen Vortrag von Keating: https://www.youtube.com/watch?v=5yfbPWjaKt4.