, Ursula Prinz-Hensing

Gibt es eine frohe Botschaft im Angesicht des Abgründigen?

Bericht über die Fortbildung 10.-13.09.2023 mit Thilo Brandl

Thilo Brandl gestaltete den Einstieg in die Tagung mittels der Frage: Gibt es eine frohe Botschaft im Angesicht des Abgründigen? Wir machten uns Gedanken über die christliche Symbolik wie das Kreuz und die Metaphorik von Licht und Finsternis. Dabei kam auch generell der christliche und kirchlich-institutionelle Umgang mit den im Leben erfahrbaren und erfahrenen Abgründen, dem Scheitern zur Sprache sowie die Gefahr die Dinge schönzureden. Wir hätten von den Philosophen Lacan, Certeau und Žižek aber wohl kaum etwas verstanden, hätten wir im Laufe der Tage auf diese Einstiegsfrage eine definitive und einvernehmliche Antwort finden wollen. Denn diesen zufolge ist die Antwort der Diskurs selbst, das Ringen mit den Fragen, das Austragen und Aushalten des, mit Rilke gesprochen, Ungelösten im Herzen.

Und hiermit befinden wir uns nun bereits im Zentrum der Inhalte der Fortbildung, in der uns Thilo Brandl die Gedanken von Lacan, Certeau und Žižek als

»Differenzphilosophie« nahebrachte. Die Erfahrung einer Differenz mache ich als Mensch dort, wo das Leben anders verläuft als es meinen Vorstellungen oder Wünschen entspricht, dort, wo sich Widersprüche auftun und ich innere Widerstände empfinde. So ergibt sich auch in der Mathematik die Differenz aus dem Minus.

Die schmerzliche Erfahrung von klaffender Differenz in vielen menschlichen Lebensvollzügen ist ein Phänomen, das sich als Menschheitserfahrung durch alle Zeiten und Kulturen zieht. Das Klagen ist groß. Vermittels einiger Bilder, eingespielter Lieder und diverser Texte aus verschiedenen Zeiten und mit unterschiedlichsten Lebensbezügen bzw. kulturellen Hintergründen hielt Thilo Brandl während der Fortbildung diese Erfahrung und die mit ihr verbundenen Fragen als eine urmenschliche Erfahrung für uns wach und vermochte uns damit über einen rein mentalen Zugang hinaus immer wieder zu berühren und tiefer zu führen.

Wie können wir nun mit den schwierigen Erfahrungen im Leben umgehen? Genau hier, also dort, wo es für uns schwierig wird, setzen die Differenzphilosophen an. Genau und gerade im Spannungsfeld der Erfahrung von Differenz, in der Erfahrung dessen, was anders ist als erwartet und erwünscht, was uns fremd ist, so Michel de Certeau, liegt die Chance, uns uns selber anzunähern – und uns Gott anzunähern.

Denn Gott ist für Michel de Certeau der schlechthin Andere und auch Fremde. Er wird erfahren als einer der fehlt, der uns nicht zur Verfügung steht, ohne den wir jedoch nicht sein können. Certeau sagt: »Der Gott meines Glaubens hört nicht auf zu betören und die Sehnsucht, ihn zu fassen, ins Leere laufen zu lassen. Er betört, denn nichts von dem, was ich weiß, ist er. Er lässt ins Leere laufen, denn ich erwarte ihn nicht, wo er kommt. Begegnungen, Ereignisse, Veränderungen verhüllen und offenbaren ihn. In der Bewegung von so vielen verschiedenen Geschichten ist er Derselbe, der darin immer als der Andere aufersteht.«

Lacan, auf den sich Michel de Certeau in seinem Denken bezieht, sieht die Differenzerfahrung als »Sehnsuchtsgenerator«. Ihm zufolge bewirkt ein in uns erfahrener ursprünglicher Mangel, ein Loch oder einen Riss, ein stetes Begehren, dessen Ziel zwar niemals erreichbar ist, dessen Zweck aber die Bewegung der Sehnsucht ist. Das Umkreisen des Ziels in der Sehnsucht, welche im Gegensatz zu diversen Zielen nicht korrumpierbar ist, ist für Lacan das Finden – der Weg ist das Ziel. Lacan fragt, ob wir unser Begehren kennen. »Was willst du?« ist für ihn die grundlegende Frage, dabei musste ich an die biblische Perikope denken, in der Jesus dem Blinden genau diese Frage stellt: Was willst du, dass ich Dir tue?

Können wir denn unser Begehren überhaupt kennen? Thilo Brandl präsentierte uns als Gegenbeispiel die typische Episode des an der Kasse tobenden Kindes, das sich eine Süßigkeit erkämpft, die schließlich Tage darauf noch unbeachtet in seiner Tasche steckt. Lacan sagt dazu:

Unser Grundbegehren ist imaginär aufgeladen. Vorstellungen, Selbstbilder, Phantasien, Wünsche …zusammengefasst in dem Begriff des Phantasmas seien die Stütze des Begehrens. Darum müssen wir nach Lacan diese imaginären Projektionen durchqueren, müssen sie abrüsten. Was bekommen wir dafür? Wir bekommen etwas weggenommen, so Thilo Brandl. Also: Plus = Minus. Deutlicher könnte sich die Paradoxie der Differenz-Dialektik wohl kaum darstellen.

Es ist die sog. negative Theologie, die uns von hier nun explizit zur Mystik führt: Der Mut zum Mangel, der Mut zur Leere, zum Nichts und zum Abgrund. Nach Michel de Certeau gehen die Mystiker auf das Begehren hin, das sie auf Gott beziehen und als Mangel erfahren. Dieser Mangel gleicht einer »glücklichen Wunde«, die schmerzt, aber zugleich öffnet. Eine Parallele dazu findet sich in der Jakobsgeschichte im Alten Testament: Jakob geht als Verwundeter und Gesegneter aus dem nächtlichen Ringen hervor und nennt den Ort seiner schwierigen Erfahrung Gottes Angesicht. Und Lacans Abrüsten des Phantasmas, ist das nicht genau der Vollzug der kontemplativen Praxis? Für Lacan zeigt sich hier der entscheidende Unterschied zur Religion, von der er sagt, sie bestünde »aus allen möglichen Weisen, der Leere aus dem Weg zu gehen«.

Dementsprechend ist für Michel de Certeau auch nicht das Beharren auf festgelegten und vertrauten Inhalten, Aussagen oder Lehren, sondern der Aufbruch in die Fremde, im Sinne von »Verlasse dein Land«, die Grundformel des Spirituellen, so Thilo Brandl. Ort und Aufbruch sind für Certeau wechselseitig aufeinander bezogen: Jeder gefundene Ort muss zugleich wieder überschritten werden. Er nennt dies die Arbeit an der Grenze im Sinne der Notwendigkeit, einer beständigen, sich nicht endgültig identifizierenden, kritischen Distanznahme zum Erreichten.

Nun, wie sieht es aus, wenn wir Teilnehmenden dieser Fortbildung in die kritische Distanznahme zu ihr gehen? Vom Überschreiten kann jedenfalls noch nicht die Rede sein. Wir mussten schauen, wie wir überhaupt mitkamen. Frei nach Žižek könnte man zwar vielleicht sagen: Je weniger wir verstanden haben, umso besser. Doch waren wir froh um jeden Zentimeter festen Bodens, den wir auf diesem bodenlosen Grund unter die Füße bekamen. Antonio Machados »Wanderer, es gibt keinen Weg, der Weg entsteht im Gehen«, eingebracht von einem Teilnehmer, begleitete uns und vollzog sich in diesen Tagen. Natürlich vollzieht sich das immer – aber nun war es so spürbar. Wir durchquerten schwieriges Gelände und rangen immer wieder mit dem, was sich uns entgegenstellte. Wir fanden uns fasziniert, verwirrt, überrascht, berührt, irritiert, überfordert, inspiriert… Lacan, Certeau und Žižek hätten ihre Freude mit uns gehabt. Wollen sie nach Thilo Brandl doch genau das, nämlich unsere gewohnten und damit zumeist eingefahrenen Denk- und Sprechweisen erschüttern, ja, zertrümmern, um neuen Raum zu gewinnen »Mein Kopf ist ganz leer fühlt sich aber nicht schlecht an«, äußerte denn auch ein Teilnehmer inmitten der Tagung.

Dialektische Spannung auch im Außen. Das Wetter wirkte wie der extra für die Tagung angepasste Rahmen. Bei sommerlichen Temperaturen kurz vor dem kalendarischen Herbstanfang bewegten wir uns zwischen der strahlenden Wärme des Hofes und der gedämpften Kühle des Zendo. Am letzten Abend überraschte uns dann der Höhepunkt der Metaphorik, als sich mit einem Gewitter die atmosphärische Spannung entlud und mit mächtigen Blitzen mühelos Licht und Finsternis einte. Auch Thilo Brandl hat das Schauspiel gebannt am Fenster verfolgt. Die Dialektik, so schien es uns, hatte er selbst ganz verinnerlicht. Äußerst authentisch und lebendig erlebte ihn die Gruppe in seinem Anliegen. Mutig und leidenschaftlich, dabei nicht weniger besonnen, einfühlsam und warmherzig hat er uns Schritt für Schritt in ungewohnte Anschauungen hinein- und aus mancher Enge des Denkens herausgeführt. Einvernehmlich spiegelte ihm die Gruppe ihre Dankbarkeit dafür.

Dankbarkeit empfinde ich auch gegenüber dem Benediktushof, dass er als spirituelles Zentrum den Mut hat, durch solche Angebote den spiritus, den Geist, wirklich wach zu halten. Wie leicht könnte jener sonst, mit Michel de Certeau gesprochen, »zum Buchstaben werden« und als »verfestigtes spirituelles Vokabular« zu einer Ideologie verkommen! Froh bin ich um all die ungewöhnlichen, an- und aufregenden Gedankenimpulse und um die Ermutigung im Umgang mit dem Schwierigen und Widersprüchlichen im Leben.

Diese Fortbildung war anders, überraschend, inspirierend! Für die gesamte Gruppe, so meine ich, wirklich etwas Neues – ein Aufbruch im Sinne von Michel de Certeau. So möchte ich mit den abschließenden Worten eines Teilnehmers enden:

»Wo es hingeht, was ich jetzt damit mache in meinem Leben, wird man sehen.«

 

Ursula Prinz-Hensing
Theologin, nach Familienzeit mit 5 Kindern ReHa-Dozentin